Ist die liberale Ordnung neutral ?
oder ob die liberale Ordnung moralische Verwerfung fördert.
Mit großer Freude und Aufregung habe ich den Text “Ist die liberale Ordnung neutral?” von
gelesen. Denn mit dem Liberalismus setze ich mich seit längerer Zeit auseinander. Insbesondere mit der Frage, ob die liberale Ordnung liberal sei. Daher waren es vor allem zwei Fragen, die meine große Erwartung auf diesen Text prägten:1. Worin unterscheiden sich seine und meine Argumente in dieser Frage ?
Welche Aspekte habe ich noch nicht beachtet und könnten auch für meine Behandlung der Frage hilfreich sein ?
Da der Text von Evan zu umfangreich war, um meinen Senf in der Kommentarspalte abzugeben, versprach ich
, mit einem Artikel zu antworten. Ganz im Sinne des Wettbewerbs der Ideen stelle ich mich Evan´s Argumenten. Wer gewinnt? Wir beide.These von Evan
Die These von Evan ist, dass die liberale Ordnung nicht neutral ist. Obwohl sie vorgebe, neutral gegenüber moralischen und weltanschaulichen Fragen zu sein, nehme sie in Wirklichkeit eine aktive, bewertende Haltung ein und würde eine bestimmte Auffassung vom guten Leben, die radikale individuelle Freiheit bevorzugen. Dadurch opfere eine liberale Gesellschaft konkurrierende Güter wie kulturelle Bindungen, Gemeinschaft, Tradition und moralische Verpflichtungen.
Evan argumentiert mit folgendem Grundgedanken: Jede Verfolgung eines Guts in einer Welt der Grenzen erfordert immer ein Opfer. Das Streben nach Freiheit – sei es im gesundheitlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich – zieht zwangsläufig ein Abwägen und den Verzicht auf andere wichtige Werte nach sich.
Der klassische Liberalismus würde uneingeschränkte wirtschaftliche Freiheit betonen, was oft zu einer einseitigen Bereicherung qualifizierter und wohlhabender Menschen führt und gleichzeitig viele andere in Armut stürzt.
Die Liberale Ordnung würde sich primär auf die Förderung wirtschaftlicher und persönlicher Freiheit ausrichten. Dadurch würden kulturelle Traditionen, religiöse Praktiken und gemeinschaftliche Bindungen als hinderlich betrachtet und systematisch abgewertet oder untergraben.
Gegenrede: Liberale Politik ist neutral - Und eröffnet damit erst die Entstehung von Kultur und Moral
Der Liberalismus ist eine politische Philosophie und Bewegung, die in der individuellen Freiheit den höchsten politischen Wert sieht. In seiner Ausprägung als Gesellschaft führt das zu Staaten, in denen Bürgern mit Grundrechten ausgestattet sind. Diese haben einen Abwehrcharakter. Das hat zur Folge, dass der einzelne Herr seines Lebensentwurfes und -planes wird. Der Staat hält sich in diesen Fragen hingegen raus. Genau hierin liegt die Neutralität liberaler Politik begründet: Der Staat entscheidet nicht über moralisch richtige oder falsche Lebensentwürfe, sondern schafft den Rahmen, in welchem der Einzelne eigenverantwortlich seinen Lebensentwurf wählen kann.
Indem liberale Politik auf staatliche Wertentscheidungen verzichtet, wird eine Gesellschaft ermöglicht, in der eine Vielzahl (verschiedener) persönlicher Entscheidungen und Weltanschauungen vorherrschen. Der Staat trifft keine moralische Vorauswahl – der Einzelne entscheidet selbst über seinen moralischen Kompass. So kann der eine konservativ leben. Sich für den Stoizismus entscheiden. Ein anderer kann Nihilist, ein wieder anderer kann utilitaristisch leben. Diese Vielfalt findet besonders in der liberalen Ordnung seinen Nährboden.
Die Neutralität des Staates bedeutet jedoch keineswegs moralische Gleichgültigkeit für die Gesellschaft. Im Gegenteil: Gerade weil der Staat neutral bleibt, entsteht Raum für persönliche Verantwortung beim Einzelnen. Individuen müssen selbst zwischen Gut und Böse wählen und tragen für diese Entscheidungen Verantwortung. Nur unter diesen Voraussetzungen entwickelt sich eine echte moralische Kultur, Vielfalt und eine dynamische Gesellschaft. Die Neutralität des Staates fördert also moralisches Verhalten, indem sie die moralische Entscheidung beim einzelnen Bürger belässt.
Entscheidendes Gegenargument
An dieser Stell möchte ich nochmal klarstellen. Mit den Bürgerrechten - in Deutschland nennen wir sie Grundrechte - ausgestattet, kann sich der Einzelne sehr wohl für Kultur, für die kirchliche Gemeinschaft, für die lokale Gemeinschaft, für moralisches Handeln und für Familie entscheiden. Die liberale Ordnung selbst trifft keine Entscheidung in diesen Wertfragen. Das ist eine Frage, die der Einzelne im Rahmen seiner Eigenverantwortlichkeit beantworten muss. Damit hast du, Evan, zwar recht, dass sich eine liberale Gesellschaft durchaus gegen Kultur etc. entscheiden kann. Eine liberale Gesellschaft kann sich allerdings auch für Kultur entscheiden. Du hast zwar recht, dass der Fokus auf die Wirtschaft zu Lasten der Güter gehen kann, “die einfach einfach um seiner selbst willen existieren”. In einer liberalen Gesellschaft können sich Einzelne aber ebenso zusammenschließen, um Unternehmen zu gründen, die sich um den Erhalt von kulturellen Gütern kümmern, oder die den Umweltschutz fördern. Ebenso kann ein Verein entstehen, der sich auf Spendenbasis finanziert und andere Gemeinwohlorientierte Zwecke unterstützt. Gerade in vielen liberalen Demokratien gibt es stark ausgeprägte gemeinnützige Organisationen, die Kultur, Umweltschutz oder Soziales fördern – und das aus freiwilligem Engagement.
Was ist die Alternative ?
Die Gretchenfrage lautet doch: Was ist die Alternative? Was ist die Alternative, welche die Probleme, die eine Gesellschaft hat, am besten löst? Eine konservative Politik, die sich verstärkt um den Erhalt von Tradition und Kultur kümmert ? Oder eine sozialistische Politik, in dessen Mittelpunkt “die Gesellschaft” steht, dessen “Wohl” auf obersten Ziel alles Wirkens steht ? Ich bin weder “anti-konservativ” oder “anti-sozialistisch”. Ich habe selbst in bestimmten Bereichen konservative Werte. In anderen Bereichen habe ich sozialistische Tendenzen, z. B. wenn es um Freunde oder Familie geht.
Das Kernargument gegen konservative oder sozialistische Politik ist, dass eine solche Politik deren Wertekompass auf die Bürger dieser Gesellschaft aufdrückt. Wenn wir bei der konservativen Politik bleiben - die den Erhalt von Kultur und Tradition in ihrem Mittelpunkt hat -, dann würde eine solche Politik auf dem ersten Blick deine Probleme, Evan, lösen: Der Fokus läge stärker auf dem Schutz von Kultur und Tradition. Doch auf den zweiten Blick werden damit jene Kulturgüter und Traditionen verdrängt, die nicht auf der Landkarte der Politiker stehen.
Hier schlage ich dich mit deinem eigenen Argument: “Die Aufrechterhaltung eines Gutes erfordert immer, dass ein anderes Gut dafür geopfert wird.” Konservative Politik ist immer für diejenige Tradition gut, deren Vertreter in der Politik sitzen. Doch was, wenn deine Traditionen und Werte nicht denen der Politik entsprechen ? Dann erleidest du Nachteile. Während die andere Kultureinrichtung staatliche Fördermittel bekommt, hat deine Kultureinrichtung Probleme die Miete zu bezahlen. Denn deine Kultureinrichtung konkurriert mit der staatlich geförderten Kultureinrichtung bei der Suche von z. B. Räumlichkeiten. Und damit ist dann nicht mehr der Einzelne Motor von Kultur und Tradition, sondern der Staat durch die Vergabe von Mittel. Es ist dann nicht mehr die Ausübung von Kultur und Tradition wichtig, sondern die Gunst der Politiker. Das führt in der Folge zu einer Pervertierung von Kulturgüter. Nicht mehr das Kulturgut an sich und dessen Wertschätzung und Erhalt, sondern die Beschaffung staatlicher Unterstützung.
Warum der Liberalismus die beste politische Alternative ist
Der Liberalismus ist daher in meinen Augen die beste politische Alternative. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Einzelne Mensch Lösungen und Antworten auf Probleme und Fragen, die er stellt, selbst liefern muss. Wenn sich der Einzelne mehr Naturschutz wünscht, so muss er sich im Zweifel selbst dafür einsetzen – sei es durch persönliche Tat, durch Vereinsgründung, Spenden oder andere freiwillige Initiativen. Ein Zwang durch staatliche Politik mag kurzfristig eine scheinbar einfachere Lösung darstellen, führt langfristig aber zu Abhängigkeiten und zu einer Verzerrung der Wirklichkeit.
Wenn der Staat bestimmte Kultur- und Traditionsprojekte mittels Steuergeldern fördert, dann hat das eine Allokation von Ressourcen zur Folge, die ohne Förderung nicht bestehen würde. Es entsteht ein „Luftschloss“: eine kulturelle und traditionelle Gesellschaft, die sich so in der Bevölkerung vielleicht gar nicht widerspiegelt. Denn wenn die Gesellschaft selbst diese Kultur befürwortet, braucht es keine erzwungene Förderung. Gleichzeitig benachteiligt man Menschen mit anderen Traditionen und Werten, die keine oder weniger Unterstützung erhalten.
Fazit: Eine liberale Gesellschaft kennzeichnet sich durch ihre Bürger
Eine liberale Gesellschaft kennzeichnet sich durch eigenverantwortliche Bürger. Der liberale Staat übernimmt keine moralische Entscheidungen für seine Bürger. Seine Bürger aber sehr wohl. Denn der Liberalismus akzeptiert die Verschiedenheit der Menschen und verbietet eine politische Einmischung in das Leben der Bürger, die deren Freiheit fundamental einschränken würde.
Deine Analogie zur Veranschaulichung deines Beitrags lautete:
Stellen Sie sich vor, jemand sieht eine andere Person ertrinken. Doch weil er nicht dogmatisch sein will, möchte er keine Stellung dazu beziehen, ob man der Person wirklich helfen sollte oder nicht – das wäre anmaßend, denn möglicherweise könnte er falsch liegen. Diese Person weigert sich also nicht nur, dem Ertrinkenden zu helfen, sondern hindert auch alle anderen daran, ihm zu helfen, um sicherzustellen, dass sie neutral bleiben und nicht aus unreflektierter "Sitte" handeln. In gewissem Sinne ist diese Person neutral geblieben – aber in einem anderen, wahreren Sinne sicherlich nicht.
Der Liberalismus erlaubt jedem Bürger, seine moralischen Vorstellungen zu entwickeln und danach zu handeln – und lässt sogar zu, dass sich der Einzelne gegen moralisches Verhalten entscheidet. Die eigentliche Frage ist: Was ist uns wirklich wichtig? Es liegt an uns, zu handeln und unsere Werte zu verteidigen, anstatt darauf zu warten, dass „die Politik“, oder die “Gesellschaft” es für uns regelt. Gerade dieses Handlungsfeld der Verantwortung ist eine große Chance – und nicht ein Mangel.
Denn: Der Liberalismus ist neutral. Seine Bürger aber nicht.
"Der Liberalismus, oder der Liberalismus ist eine politische Philosophie und Bewegung, die in der individuellen Freiheit den höchsten politischen Wert sieht." -- zeigt dieser Satz nicht schon, dass der Liberalismus nicht neutral sein kann, weil er einen höchsten politischen Wert ansetzt, und dieser mit anderen Werten in offensichtlichem Konflikt steht?
Davon abgesehen, habe ich den Eindruck, dass dieser Artikel den Liberalismus eher in der Theorie als in der Praxis darstellt, denn in der Praxis ist "der Liberalismus" mitnichten neutral, wie der erste Artikel von Evans es ausführte. (Wobei natürlich immer die spitzfindige Frage zu stellen wäre, "Neutral in Bezug auf was?" In Bezug auf manche Dinge wird fast jede politische Ordnung neutral sein, in Bezug auf andere wohl keine.
Jetzt juckt es mir doch in den Fingern, in einem dritten Artikel meinen Senf ausführlich dazu zu geben.