Demokratie - Manko II
Wieso das Konstrukt der Mehrheitskoalition abzulehnen ist.
In Deutschland existiert seit 16 Jahren + 4 Jahre (20. Bundestag, dessen Legislaturperiode noch läuft), eine Mehrheitskoalition. Aus meiner Sicht ist diese Praxis ein demokratisches Manko. Denn sie bedeutet die Regierung durch den größten Teil. Diese Problematik wirkt sich nämlich auf den Ablauf im Bundestag und auf den der Regierung aus.
Die politische Praxis des Koalitionsvertrages macht den für die Demokratie so wichtigen Diskurs zu einer Farce. Überspitzt lässt sich die Problematik im Zusammenhang mit der Regierung des größten Teils wie folgt beschreiben:
Die demokratische Legitimation der Abgeordneten ergibt sich aus dem ‚Ja‘ des Wählers zu einem Kandidaten (Erststimme) und dem Ja zu einem bestimmten Parteiwahlprogramm mit der Zweitstimme. Der Wähler hat keine anderen direkten Eingriffsmöglichkeiten auf die Zusammensetzung auf das Parlament. Das Wahlprogramm wurde von einer Partei erstellt. Der Wähler hatte hierauf keinerlei Mitwirkungsmöglichkeiten. Seine einzige wirkliche Wahl ist die Entscheidung für eines der angebotenen Wahlprogramme. Nach meiner Interpretation ist damit das durch den Wähler gewählte Wahlprogramm mit der Zweitstimme eine höchst zu respektierende Entscheidung. Diese Entscheidung legitimiert die Inhalte des Wahlprogramms. Ein Koalitionsvertrag hingegen ist ein sog. Kompromisswahlprogramm. Eine Mischform der Wahlprogramme der koalierenden Parteien. Koalieren Partei A und B ergibt sich das Kompromisswahlprogramm AB. Und genau an dieser Stelle entsteht für mich ein demokratisches Manko. Denn weder die Wähler der Partei A noch die von B haben jenes Kompromiss-Wahlprogramm A-B verifizieren können. Sind überhaupt noch die Punkte der Partei A dabei, die Wähler X, Y oder Z dazu bewogen hat, die Partei A zu wählen, oder fehlt der Punkt vielleicht sogar komplett ? Und hätte der Wähler Partei X gewählt, wenn er gewusst hätte, wie die Koalitionsbildung stattgefunden hat.
Gleichzeitig ergibt sich ein weiteres Problem. Die Mehrheitskoalition führt außerdem dazu, dass sie den staatsorganisatorischen Mechanismus der Mehrheitsfindung im Parlament pervertiert. Denn letztlich findet die Entscheidungsfindung bei den Regierungsspitzen statt. Das hat sowohl auf die Regierung als auch auf den Bundestag negative Auswirkungen.
1. Auswirkungen auf die Regierung
Die Regierung setzt sich aus dem Kanzler und den Ministern zusammen. Die Wahl des Kanzlers erfolgt gem. Art. 63 GG. Der Bundespräsident schlägt einen Kandidaten vor. Vereinigt dieser Kandidat die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags, so ist dieser gewählt. Der gewählte Kanzler schlägt dann die Bundesminister vor und werden vom Bundespräsidenten ernannt, Art. 64 GG.
Der Koalitionsvertrag wirkt bereits bei der Wahl des Bundeskanzlers aus.
Mehrheitskoalitionen werden gebildet, um Teil der Regierung zu werden. Im Koalitionsvertrag einigt man sich damit auf einen Kanzlerkandidaten. Ebenfalls wird man sich über die Verteilung der Ministeriumsposten einig. Für die Wahl des Kanzlers durch das Parlament ist die einfache Mehrheit notwendig. Dank des geschlossenen Abstimmungsverhaltens infolge des Koalitionsvertrages durch die koalierenden Fraktionen im Bundestag steht damit der Ausgang der Wahl fest.
Für die künftigen Vorhaben der Regierung ist die Mehrheit kraft Koalitionsvertrages elementar. Viele Vorhaben benötigen im Bundestag eine einfach Mehrheit. Bei solchen Vorhaben kann sich die Regierung über deren Durchsetzung sicher sein. Einzig bei Vorhaben, bei denen zusätzlich die Zustimmung der Länder notwendig sind, ist das Durchbringen des Vorhabens nicht gesichert.
2. Auswirkungen auf den Bundestag
Der Koalitionsvertrag hat enorme Auswirkungen auf die Arbeit im Bundestag.
Inhaltlich wird im Koalitionsvertrag u. a. festgeschrieben, welche Gesetzesvorhaben verabschiedet werden sollen. Das heißt übersetzt, dass sich die koalierenden Parteien darauf einigen, bei jenen Vorhaben im Bundestag geschlossen abzustimmen. Dabei ist der Fraktionszwang verboten. Das ergibt sich aus Art. 38 GG. Der einzelne Abgeordnete würde in der Öffentlichkeit vermutlich argumentieren, dass man selbst nicht zu einem Abstimmungsverhalten gezwungen wurde, aber eine Ablehnung des Vorhabens im Bundestag zur Auflösung der Regierung zur Folge haben könnte und man sich deshalb für die Zustimmung des Vorhabens entschieden hat. Das ist also nicht qua definitionem Zwang (a. A. vertretbar).
Hierzu folgt ein kleiner statistischer Einschub. Diesen verwende ich bereits in Demokratie-Defizit III. Da der Einschub das eben geführte Argument stützt, erlaube ich mir eine erneute Verwendung:
“Der Anteil der Regierungsvorlagen bei Gesetzesvorlagen ist hoch. Während der 17. Wahlperiode (2009-2013) reichte die Regierung 492 Vorlagen ein, 54, 3 % aller Gesetzesvorlagen. Während der 18. Wahlperiode (2013-2017) stieg der Anteil der Regierungsvorlagen auf 67, 3 % (530 Stück), in der 19. Wahlperiode sank der Anteil auf 52, 0 % (489 Stück).
Die wirklich wichtigen Kennzahlen, sind jene der verabschiedeten Gesetze. Hier ist das Ausmaß noch deutlicher zu erkennen. Anteil der Regierungsvorlagen, die am Ende vom Bundestag verabschiedet wurden lag während der 17. Wahlperiode bei 78, 5 % (434 insgesamt), während der 19. Wahlperiode bei 87, 9 % (488 insgesamt), während der 19. Wahlperiode bei 81 % (443 insgesamt).”
Unabhängig davon, ob dieser Entscheidungsprozess nun Fraktionszwang bedeutet, hat das nachteilige Auswirkungen für die Debatte im Bundestag. Die Regierung oder Fraktionen des Bundestages bringen ein Gesetz ein. Da aufgrund der Koalition eine Mehrheit besteht, muss man sich über die Mehrheit im Bundestag keine Sorgen machen. Sachliche Kritik, handwerkliche Fehler, Risiken oder ähnliches, auf die eine Opposition hinweisen könnte, können daher einfach ignoriert werden.
Zugleich kann es zu absurden Verhältnissen kommen, wenn wir an die beiden Konstellationen aus dem Demokratie-Defizit I denken: Es ist möglich, dass mehrheitsfähige Interessen unberücksichtigt bleiben, und es ist möglich, dass stark unterrepräsentative Interessen dank Koalitionsbildung zu einem Regierungsvorhaben werden. Das verstärkt gewissermaßen den Kampf um das beste Interesse beim Wähler.
Bei dieser Problematik sollte man sich vor Augen führen, dass der Bundestag das zentrale Organ der Demokratie in Deutschland ist: Die Gesetzgebung eines Landes. Durch das Mittel des Koalitionsvertrags und dem damit einhergehenden Fraktionszwang findet die Willensbildung statt von unten nach oben, von oben nach unten statt. Ein weiterer Nachteil ist, dass sich die Macht auf die Regierung zentralisiert. Wenn lediglich deren Vorhaben verfolgt werden, Einwände überhört werden können, erhöht das wiederum das Risiko fatale Fehler zu erleiden. So kann es dazu kommen, dass Gesetzesvorlagen in den Bundestag eingebracht werden, kritische Einwände auf Gefahren und Risiken hinweisen, aber aufgrund der eigenen Mehrheit überhört werden können, und das Gesetz letztlich beschlossen wird.
Meine Darstellung der demokratischen (Il-)Legitimation erfolgte überspitzt. Der Bundestag hat eine ausreichende demokratische Legitimation. Schließlich wurden die teilnehmenden Parteien durch eine ordnungsgemäße Wahl vom Wähler gewählt. Meiner Meinung nach ist das aber kein Grund keine Kritik zu üben. Die Bildung einer Koalition hat sicherlich auch praktische Gründe. Angefangen bei der Wahl des Bundeskanzlers, benötigt es eben keine langwierige Auseinandersetzung. Dies geht aber zulasten des für eine Demokratie unabdingbaren Diskurses. Denn wenn ich - unter Einhaltung der formellen und materiellen Anforderungen an ein Gesetz - ein Vorhaben einbringen kann und dabei nicht auf Stimmen anderer Abgeordneter angewiesen bin, dann versinken deren Einwände in die Bedeutungslosigkeit.
Und damit pervertiert sich der Prozess der Mehrheitsfindung weg von der sachlichen Ebene hin zur machtsichernden Ebenen.

